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Kampagnen 20.02.2022

Talk mit Marina Chernivsky: Die Pandemie bringt über Verschwörungsmythen antisemitische Denkmuster zum Vorschein

Marina Chernivsky war zu Gast in unserer Talkrunde "Verschwörungsmythen radikal höflich begegnen". Wir haben aus unseren Notizen eine Zusammenfassung geschrieben, für alle, die nicht dabei sein konnten. Foto: flickr - Rasande Tyskar

Zu unserer zweiten Talkrunde “Verschwörungsmythen radikal höflich begegnen” am 8. Februar 2022 haben wir Marina Chernivsky eingeladen. Sie ist Leiterin des Kompetenzzentrums für Prävention und Empowerment, Geschäftsführerin von OFEK e.V. – Beratungsstelle bei antisemitischer Gewalt und Diskriminierung, Psychologin und Soziologin mit dem Schwerpunkt Verhaltenstherapie und -forschung.

Bei dieser Talkrunde interessierte uns der Zusammenhang von Verschwörungserzählungen und Antisemitismus. Warum ist Antisemitismus so häufig ein Element von Verschwörungserzählungen? Und wie erkenne ich ihn überhaupt? Welche Tipps gibt es zum Umgang mit antisemitischen Verschwörungserzählungen? Das waren einige der Fragen, die wir und die Teilnehmenden zur Veranstaltung mitgebracht hatten. Marina Chernivskys Input dazu sowie die anschließende Diskussion fassen wir hier für euch zusammen.


Antisemitismus-Verstärker Coronapandemie

Seit Beginn der Pandemie hat RIAS (Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin) eine Verdopplung der Fälle von antisemitischer Gewalt registriert. Jüdinnen*Juden wundert das nicht. Für sie war sofort klar, dass Antisemitismus in der Coronakrise eine große Rolle spielen werde. Antisemitismus tritt immer wieder besonders deutlich als Reaktion auf bestimmte Krisen hervor, um komplexe Situationen, die meist mit einem Kontrollverlust und existenziellen Ängsten einhergehen, für die einzelne Person kontrollierbar oder zumindest erklärbar zu machen. Eine Pandemie ist hier nur ein extremes Beispiel für Ängste und Verunsicherungen in der alltäglichen Lebensführung. Das heißt jedoch nicht, dass wir ohne Krise keinen Antisemitismus hätten: Antisemitische Ressentiments und Strukturen sind fest in unserer (deutschen) Gesellschaft verankert und werden in Krisensituationen für eine breitere Öffentlichkeit nur stärker sichtbar. Marina Chernivsky umschreibt Antisemitismus als “Lagerung”, also als impliziten Gefühlszustand, an den in Krisenzeiten affektiv angeknüpft werden kann. Betroffene von Antisemitismus spüren diesen auch ohne Krise – nur leider finden ihre Warnungen viel zu selten Gehör.

Aus der Geschichte nichts gelernt?

Die Kontinuität von Antisemitismus wird allerdings nur selten gesehen und noch seltener anerkannt. Und hier werden auch wir Talkgäste nicht verschont, wenn Marina Chernivsky uns vor Augen hält, dass wir gerade dabei sind, Antisemitismus bei den Coronaverharmloser*innen zu erkennen, unseren eigenen jedoch noch nicht wahrgenommen haben. Das zeigt sich zum Beispiel an affektiv aufgeladenen Wissenspartikeln, die mit Verteidigungserzählungen verflochten werden, a lá “Mein Opa war kein Nazi”. So glauben etwa 30% der Deutschen, dass ihre Großeltern Jüdinnen*Juden geholfen hätten. Tatsächlich waren es aber maximal 0,3% der Deutschen, wie eine Studie der Universität Bielefeld und der Stiftung EVZ herausfand. Das hat großen Einfluss auf den Umgang mit Antisemitismus in Deutschland, denn die wenigsten verstehen, auf was für ein Erbe sie zurückgreifen. Die Initiative, sich mit dem eigenen Antisemitismus und der Familiengeschichte auseinander zu setzen, ist seit Ende des Zweiten Weltkrieges gering. 


Es hat in der breiten Öffentlichkeit in Deutschland Tradition, über Antisemitismus zu sprechen, meistens wird dieser jedoch auf die Jahre 1933-1945 beschränkt. Dass es antisemitische Pogrome bereits seit dem Mittelalter gibt und die Kontinuität auch nach 1945 bis in die Gegenwart anhält, wird dethematisiert. Die Bereitschaft, Antisemitismus entgegenzutreten, ist bislang nicht kollektiv gelernt worden, deshalb klängen auch die Reden von Politiker*innen meist ähnlich und inhaltslos. Die Auseinandersetzung mit der Shoah fehle, das mache sich auch in der Sprachlosigkeit der Mehrheitsgesellschaft bemerkbar. Marina Chernivsky geht so weit zu sagen, diese Bereitschaft existiere nicht. Dafür findet sich schnell ein Beispiel: wir müssen nur daran denken, wie lange es gedauert hat, die gelben Sterne auf sogenannten „Corona-Protesten“, die eine Relativierung der Shoah und eine Verhöhnung der Opfer darstellen, als strafrechtlich relevant einzustufen. Die Bundesgeneralanwaltschaft hält es weiterhin für übertrieben. Die antisemitischen Strukturmerkmale in Deutschland sind heute offensichtlich. Nirgends auf der Welt sind so viele Menschen mit antisemitischen Codes auf die Straße gegangen wie in Deutschland. Antisemitismus wurde in Deutschland seit 1945 wegimaginiert, aber unterschwellig taucht er permanent auf. Es brauchte also nicht die AfD oder andere rechte Akteure, um Antisemitismus zu “aktivieren”. Antisemitismus ist auch so in der deutschen Gesellschaft tief verankert. Antisemitismus, nicht als politische Ideologie, sondern als gesamtgesellschaftliches Ressentiment hat eine enorme Kraft in Deutschland.

Zwar haben sich antisemitische Erzählungen inhaltlich im Laufe der Epochen verändert, die grundlegende Struktur bleibt jedoch stabil. Es besteht also eine Diskontinuität hinsichtlich der inhaltlichen Bezugspunkte von antisemitischen Erzählungen und gleichzeitig eine Kontinuität hinsichtlich der Struktur und Relevanz von Antisemitismus, betont Marina Chernivsky. Sie vergleicht das mit einer Zwiebel: nichts wird abgeschält, es kommt immer eine Schicht obendrauf, die Schichten werden nur überlagert.

Woran erkenne ich nun den Antisemitismus in Verschwörungserzählungen?

Im Talk hat Marina Chernivsky betont, dass Verschwörungserzählungen auf den ersten Blick vielleicht inhaltlich nicht antisemitisch wirken, weil beispielsweise kein Bezug zu Jüdinnen*Juden gemacht wird. Strukturell jedoch, sei jede Verschwörungserzählung antisemitisch. Was genau heißt das? Sie zählt fünf wichtige Merkmale von strukturellem Antisemitismus auf:


  • Macht: einer bestimmten Gruppe / Person wird eine Übermacht zugeschrieben
  • Einfluss: diese Gruppe / Person hat zudem einen besonders großen Einfluss auf das Tages- und Weltgeschehen
  • Illoyalität: die Gruppe / Person verhält sich illoyal gegenüber dem Rest der Gesellschaft
  • Geheimnis: die Gruppe / Person agiert im Geheimen und nur bestimmte Menschen „wissen“ darüber Bescheid
  • Konspiratives Denken: der Glaube, die Gruppe / Person verbünde sich gegen die allgemeine Bevölkerung, um dieser für den eigenen Vorteil zu schaden und alles was passiert hinge miteinander zusammen


Konkret wird diese Erzählung durch die Personalisierung der vermeintlich Mächtigen, welche im Weltgeschehen angeblich “die Strippen ziehen”. Hierfür werden verschiedene Chiffren benutzt: „Ostküste“, „Finanzkapital“ oder auch “Rockefeller”, “George Soros” und “Bill Gates” als personifiziertes Judentum etc. Dies sind Codes, die bei etwas genauerem Hinsehen verwendet werden, um jüdische Menschen oder Organisationen zu umschreiben oder nicht jüdische Menschen, denen aber die stereotypen Attribute zugeschrieben werden, wie Bill Gates und Rockefeller, als jüdisch zu markieren. Insgesamt deuten diese Elemente auf eine Verschwörung hin: Es gibt eine einflussnehmende Instanz, die mit dem Gesetz, der Gemeinschaft und den Normen nicht vereinbar ist. Diese arbeitet im Geheimen gegen die Mehrheit der Gesellschaft und ist feindselig gestimmt. Einziges Unterscheidungsmerkmal zur realen Verschwörung ist das konspirative Denken, das keine Zufälle mehr zulässt, sodass alles verwoben und von einer kleinen Elite gesteuert scheint. Die Schlussfolgerung daraus ist, dass sich die Gesellschaft wehren müsste. Sie befindet sich in der Position der Abwehr wieder bzw. in der Opferrolle. Glauben Menschen, dass man ihnen etwas Schlechtes antut, hängen daran Affekte und Ängste. Es entsteht ein Bedürfnis nach Solidarität. Man beginnt sich mit anderen zu verbünden. In dem Moment, in dem Menschen sich angreifbar aber wehrhaft gegen eine vermeintliche geheime Instanz wahrnehmen, können sie sich wieder mächtig, einflussreich und stabilisiert fühlen – und Bedürfnisse abdecken, die vielleicht durch eine (gesellschaftliche oder persönliche) Krise ins Wanken geraten sind. Antisemitische Chiffren sind gesellschaftlich schon lange verankerte und scheinbar einfache „Erklärungen“ für komplexe Sachverhalte in der Welt.

Was muss passieren? – Lösungsansätze

Aus dem dichten und spannenden Input von Marina Chernivsky sowie der interessanten Diskussion mit den Teilnehmenden im Anschluss, nehmen wir folgende Handlungstipps mit:

  • Wir müssen im Privaten und im Öffentlichen die Handlungsmacht situativ ergreifen.
  • Im Rahmen unserer Möglichkeiten müssen wir etwas tun: z.B. eigene antisemitische Denkmuster erkennen und in Gesprächen rote Linien benennen.
  • Die Strafverfolgung von Antisemitismus muss anziehen. Hier ist es wichtig, Initiativen zu unterstützen und den Druck auf die Politik als Zivilgesellschaft zu erhöhen.
  • Die Proteste gegen die Pandemie-Maßnahmen sind eine reaktionäre Bewegung. Der darin zum Vorschein kommende Antisemitismus könnte sich allerdings verstetigen und Holocaust relativierende Symbolik dadurch normalisiert werden. Wir als Zivilgesellschaft sollten das auch über die Pandemie hinaus genau beobachten und deutlich kritisieren.
  • Wir haben den Wunsch andere zu überzeugen. Statt zu belehren, kann es zielführend sein, gut zu zu hören. Gleichzeitig sollten antisemitische Aussagen nicht noch eine weitere Bühne bekommen – hier ist es wichtig, auf die Grenzen der Meinungsfreiheit (Hass ist keine Meinung!) hinzuweisen.
  • Es tut gut zu merken, nicht alleine zu sein. Wir können uns wappnen durch den Austausch mit anderen.
  • Zum Thema Antisemitismus finden wir in der deutschen Gesellschaft eine teils frappierende Sprachlosigkeit. Artikel, Podcasts und Filme/Dokumentationen können ein guter Ausgangspunkt sein, um ein Gespräch zu starten.
  • Es lohnt sich nicht, Fronten aufzumachen, wer richtig oder falsch liegt. Es kann helfen, die faktische/inhaltliche Ebene zu verlassen und sich auf die Beziehungsebene zu begeben.
  • Viele Menschen können sich nicht vorstellen, wie es jüdischen Menschen in Deutschland geht. Da jede Familie in Deutschland Bezüge zur Shoah hat, sollte man das thematisieren.
  • Menschen, die noch kein geschlossenes Weltbild haben, können noch erreicht werden. Hier hilft es, ihre Reflektionsfähigkeit und Medienkompetenz zu stärken und zu fördern.
  • Sobald klar wird, dass Grenzen extrem überschritten werden und Menschen nicht zur Einsicht bereit sind, kann es hilfreich sein, die eigene Energie in andere Kämpfe zu stecken.


Diese Liste der Lösungsansätze ist natürlich nicht vollständig und wir werden in den kommenden Talks weiter mit Teilnehmenden und Expert*innen darüber nachdenken, wie wir souveräner im Umgang mit Verschwörungsgläubigen werden können. Hierfür sprechen wir in unserem nächsten Talk am 07.03.2022 um 19 Uhr mit Sarah Pohl von Zebra BW e.V., der Zentralen Beratungsstelle für Weltanschauungsfragen Baden Württemberg. Kommt gerne dazu. Anmelden könnt ihr euch über diesen Link.