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Kampagnen 29.06.2022

Talk mit Dr. Sarah Pohl: Kriegspropaganda und Verschwörungsmythen

Wie weit ist der Weg von Verschwörungserzählungen zu Kriegspropaganda? Das haben wir uns im Angesicht des Krieges gegen die Ukraine gefragt und bei unserem letzten Talk der Reihe “Verschwörungsmythen radikal höflich begegnen” Dr. Sarah Pohl gebeten zu berichten, wie sich der Beratungsalltag seit dem 24. Februar verändert hat.

Dr. Sarah Pohl ist Leiterin von Zebra-BW, der Zentralen Beratungsstelle für Weltanschauungsfragen Baden-Württemberg. Zebra bietet kostenlose Beratungen zu verschiedenen Weltanschauungsfragen, Sekten, Verschwörungsmythen und spirituellen Krisen an. Die Beratungsstelle arbeitet nach den Grundsätzen der Neutralität, Freiheit und Meinungsfreiheit und versteht sich im demokratischen Gefüge als Brückenbauer.

Pro-russische Haltungen in der Querdenker-Szene

Als Russland in die Ukraine einmarschierte, gingen Sarah Pohl und ihr Team zunächst davon aus, dass sich viele Menschen bei ihnen melden würden. Doch in den ersten zwei bis drei Wochen geschah das nicht: Es war besonders ruhig und schien, als würden die kleineren Probleme in dem großen Weltgeschehen gerade untergehen. Nach wenigen Wochen begannen dann aber wieder die Telefone zu klingeln. Oft waren es Verwandte und Freund*innen, die von den prorussischen Meinungen ihrer Angehörigen schockiert waren und den Kontakt abbrechen wollten. Ein Teil der bisherigen Querdenker*innen war zu einer prorussischen Haltung übergegangen und hatte prorussische Verschwörungsmythen rund um den Krieg gegen die Ukraine in ihren Glauben implementiert. Es zeigte sich besonders in Telegram-Kanälen, dass die Verschwörungsszene zunächst verwirrt war und einen Standpunkt finden musste, aber auch, dass sich die Szene sofort an aktuelle Ereignisse heftete und intensiv über vermeintliche Biolabore der USA in der Ukraine debattierte. Es vermischten sich bereits bestehende Verschwörungserzählungen über Corona mit neuen Erzählungen über geheime Biolabore der USA, in denen neue Viren kultiviert würden, um die nächste Pandemie auszulösen. So entstand ein Gemisch eines Super-Verschwörungscocktails.

In den Beratungen erlebt Sarah Pohl eine zunehmende Polarisierung. Es rufen vermehrt Menschen an, die durch prorussische Haltungen ihrer Angehörigen eine rote Linie überschritten sehen. Nach einigen Wochen war in den Chatforen aber auch festzustellen, dass das Thema Krieg wieder in den Hintergrund rückte und durch Corona ersetzt wurde. Sarah Pohl nimmt an, dass das Interesse am Krieg durch den Gewöhnungseffekt abflacht und die einzelnen Menschen in ihrem Alltag einfach weiterhin mehr Berührungspunkte mit dem Thema Corona und Impfpflicht haben.

Fehlende Medienkompetenz und Verschwörungsmythen

Konflikte treten vor allem bei Paaren, aber auch innerfamiliär, meistens zwischen erwachsenen Kindern und ihren Eltern auf, oder aber zwischen Paaren und Kolleg*innen.

Sarah Pohl macht das anhand eines Fallbeispiels deutlich. Es geht um eine Frau namens Anne mit Kind und die 71-jährige Mutter, die besonders vehement gegen die Pharmaindustrie schießt und mit einem Anti-Bill Gates T-Shirt gekleidet auf sogenannte Hygienedemos geht. Die Tochter empfindet das Verhalten der Mutter unangebracht und beklagt ihre Resistenz gegen Argumente. Sie möchte nicht, dass ihre eigene Tochter mit der Oma konfrontiert wird. Gleichzeitig möchte sie ihre eigene Mutter vor sich selber schützen, sie überzeugen, sich impfen zu lassen. Sie hat große Angst, die Mutter könne mit ihrem Verhalten eine nicht mehr zu revidierende Fehlentscheidung treffen.

Sarah Pohl erklärt, dass das Festhalten und Abdriften in Verschwörungserzählungen bei älteren Menschen oft mit einer fehlenden kritischen Medienkompetenz einhergeht: bei älteren Menschen seien sich nur ca. 20% darüber bewusst, dass ihnen bereits gezielte Falschinformationen begegnet sind. Bei jüngeren Menschen sei die Prozentzahl höher. Die ältere Generation sei, so Sarah Pohl, in gewisser Hinsicht eine verlorene Generation, was kritische Mediennutzung angeht.
Das bringt uns zu der Frage: Was machen wir, wenn Argumente nicht mehr fruchten? Wie kann es weitergehen?

Sarah Pohl schildert, dass es tatsächlich Menschen gibt, mit denen eine Diskussion keinen Sinn hat, die aggressiv reagieren und bei denen kein Herankommen ist. Sie plädiert dafür, zunächst auf diejenigen zuzugehen, die Unterstützung brauchen und jene, deren Weltbild noch nicht ganz geschlossen ist. Wichtig im Gespräch sei eine gelassene, aber interessierte Haltung: wir sollten uns klar machen, dass wir die andere Person nicht überzeugen müssen, ihr aber zuhören und sie ernst nehmen sollten. Versuchen wir selbst, unser Gegenüber zu überzeugen, erreichen wir damit oft einen Backfire-Effect – die betreffende Person wird sich in die Enge gedrängt fühlen, ihre Position verteidigen und ihre Meinung nur noch verhärten. Dieser “Confirmation Bias” entsteht durch die Deutung, die Bekämpfung der eigenen Meinung bestätige nur ihre Richtigkeit. Als Beispiel wird hier eine Situation in einem Familien-Chat genannt. Ein Verwandter der betroffenen Person schickte ein Meme, das aus einer prorussischen Chat-Gruppe stammt. Darauf hingewiesen, wurde der Verwandte ungehalten und verteidigte das Meme umso mehr.

Sarah Pohl verweist darauf, dass es vielleicht vorgelagerte Konflikte gab. Vielleicht passe dem Verwandten aber auch einfach die Konstellation nicht und er als älterer Mann wolle sich nicht von der jüngeren weiblichen Nichte belehren lassen oder ähnliches. In jedem Fall rät Sarah Pohl dazu, in kritischen Situationen lieber den persönlichen Kontakt per Telefon oder Treffen zu suchen und eine Kommunikation ausschließlich über Messengerdienste zu vermeiden, um Missverständnissen so gut es geht vorzubeugen. Sollte das Geschriebene aber in strafrechtlich relevante Gewaltandrohungen umschlagen, darf nicht mehr diskutiert werden, sondern dann muss direkt gehandelt werden.

Wir überlegten in der Runde, ob es Themen und Szenarien von Verschwörungsideolog:innen gibt, die von rechten Akteur*innen für ihre Zwecke genutzt werden könnten, in dem sie z.B.durch die Krise steigende Lebenshaltungskosten instrumentalisieren, um Angst und Unmut in der Bevölkerung zu schüren? Könnten Verschwörungsmythen, die im Zusammenhang mit dem Krieg gegen die Ukraine als Verschwörungsmythos entstehen größere Massen mobilisieren? Sarah Pohl sieht derzeit kein größeres Potenzial für eine Mobilisierung, sie vergleicht den Zulauf zu verschwörungsideologischen Demonstrationen mit einem Karussell. Beim Thema Klimawandel würden zwar beispielsweise immer wieder Menschen auf den Zug aufspringen, gleichzeitig gäbe es aber ähnlich viele, denen die neu eingeschlagene Richtung dann doch zu radikal sei und die die Bewegung wieder verlassen. So beherrschten zu Beginn der Pegida-Demonstrationen andere Themen die Verschwörungserzählungen, als heute. Die Szene mischt sich also stetig neu, nur der harte Kern wird weiterhin Verschwörungsmythen verbreiten und bestehen bleiben.

Der Methodenkoffer

Welche Tipps zum Umgang mit Verschwörungsgläubigen und -interessierten hat Sarah Pohl? Dazu brachte sie uns einen Methodenkoffer mit.

Vier Ohren hören mehr als zwei

Eine Herangehensweise ist das “Vier Ohren-Modell” von Friedemann Schulz von Thun. Das “Vier Ohren-Modell” besagt, dass jeder Mensch sobald er etwas sagt, auf vier Ebenen Nachrichtensignale an den Empfänger der Nachricht sendet.

  • eine Sachinformation, also worüber informiere ich eigentlich?
  • eine Selbstkundgabe, was gebe ich von mir preis?
  • einen Beziehungshinweis, was halte ich von dir?
  • einen Appell, was möchte ich bei der Empfänger*in erreichen?

Es ist also wichtig genau zu prüfen, was gesagt wurde und was beide Kommunikationspartner*innen verstanden haben.


Eigene Zielsetzung und Rolle reflektieren

Wichtige Erkenntnis: wir können die andere Person nicht verändern, sondern nur Impulse setzen. Was wir aber verändern können, ist unsere eigene Position. Dabei ist wichtig zu reflektieren, welcher Konflikttyp man ist. Bin ich die Person, die in die Offensive geht? Oder ergreife ich eher die Flucht? Bin ich ein*e konstruktive Streiter*in oder bin ich so harmonieliebend, dass ich jeden Konflikt überspiele? Und auf welcher Eskalationsstufe befinde ich mich eigentlich mit meinem Gegenüber?

Wenn das Verhältnis noch nicht so eskaliert ist, die Gesprächspartner*innen noch miteinander sprechen können, ohne hoch emotional zu werden, kann eine Kommunikationsberatung bereits helfen, um wieder näher zueinander zu finden. Ist der Kontakt aber schon eskaliert, hat das Gegenüber bereits die Koffer gepackt zum Auswandern, nützt es auch nichts mehr nach den unerfüllten Bedürfnissen und Wünschen zu fragen. Was dann noch hilft? Tiefergehende Gespräche auf der Verstehensebene, also das in Beziehung treten mit dem Gegenüber und Erfragen von Ursachen und hinter dem Verschwörungsglauben gelagerten Bedürfnissen.


Methoden fürs Gespräch

Hierzu gibt Sarah Pohl den Tipp zur “Drei gewinnt-Regel”: man selbst bringt in der Diskussion nur drei Argumente hervor, das ist die Anzahl, die unser Gehirn verarbeiten kann. Wenn das Gegenüber nach diesen drei Argumenten keine Anzeichen von Einsicht oder zumindest Zweifeln zeigt, habe es keinen Sinn weitere Argumente zu bringen, so Sarah Pohl. Außerdem sei es von Vorteil auf die Reihenfolge der Argumente zu achten: Das zweitbeste Argument kommt an den Anfang, das schwächste in die Mitte und das beste Argument gehört an den Schluss. Hilfreich sei es auch Gegenargumente direkt im Gespräch schon vorweg zu thematisieren. Wer das im Vorfeld einer aufkommenden Diskussion schon vorbereitet, ist gut gerüstet. Ziel des Gesprächs sollte aus Sarah Pohls Sicht aber immer sein, die eigene Sichtweise erweitern zu wollen, dem Gegenüber seine Überzeugungen nicht nehmen zu wollen, sondern Verständnis für die Ansichten zu zeigen – auch wenn es manchmal schwer fällt.

Umgang mit überzeugten Verschwörungsgläubigen

Eine Teilnehmerin fragt, was aber sei in dem Falle, dass Verschwörungsgläubige bereits die Koffer gepackt haben und auswandern wollen? Hier rät Sarah Pohl Grenzen zu setzen und klar zu formulieren, dass man selbst diese Haltung ablehnt, gleichzeitig solle man aber über andere Themen in Kontakt bleiben, signalisieren, dass man weiterhin offen und zugewandt ist, denn vielleicht kommt die Person eines Tages zurück und braucht dann ein Umfeld außerhalb der Filterblase, in das sie zurück kann. Ein Kontaktabbruch sei daher nicht zu raten. Denn wenn Menschen sich abgelehnt fühlen oder angefeindet werden, stürzen sie sich nur weiter in ihre Filterblase. Auch wenn sie vielleicht gar nicht alles, was dort kommuniziert wird, vertreten, haben sie das Gefühl sich und ihre Welt verteidigen zu müssen. Sarah Pohl vergleicht das Verhalten mit dem “Romeo & Julia-Effekt”. Sie sagt, wären Romeo und Julia für ihre Liebe, also ihre Überzeugung nicht so von ihren Familien ausgestoßen und angefeindet worden, wären ihnen wahrscheinlich die ein oder anderen fragwürdigen Aspekte des Partners aufgefallen und sie wären nicht bis zum Tod gegangen. Übertragen auf Verschwörungsgläubige sollte vermieden werden, dass sie derart in die Ecke gedrängt werden, dass sie bereit sind für ihre Überzeugungen alles aufzugeben oder sogar bis in den Tod zu gehen. Manchmal ist es schwer das Eis zu brechen, dann kann es hilfreich sein im Gespräch eigene Gefühle zu offenbaren. Oft fällt es dem Gegenüber dann leichter auch über eigene Gefühle und Bedürfnisse zu sprechen. Paternalistische Herangehensweisen, die dem Gegenüber signalisieren sollen, dass es mit seinen Ansichten falsch liege, sind hingegen kontraproduktiv.

Wenn aber diese Offenheit über eigene Gefühle von anderen nur belächelt wird, lohnt es sich, zu schauen, ob es tieferliegende Probleme oder Stellvertreterkonflikte gibt. Gerade zwischen Eltern und Kindern seien hier alte Rollenmuster schwierig, da Eltern ihre Kinder dann oft nicht ernstnähmen. Wichtig sei, dass das (erwachsene) Kind sich nicht auf diese etablierten Rollenangebote einlässt, sondern deutlich macht, dass es ernst genommen werden möchte.

Für die, die sich zu Meinungsbildung weiter informieren möchten, hat Sarah Pohl einen Lesetipp: “Gefühlte Wahrheit - Wie Emotionen unser Weltbild formen” von Sebastian Herrmann. Und wer sich in einer belastenden Situation befindet, kann sich gerne für ein Beratungsgespräch an Zebra wenden.